Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! - Bertolt Brecht
Grenzen sind und bleiben Scheiße. Familien zerreißen, Freundschaften zerreißen, das ist und bleibt Scheiße. Mauern, Stacheldraht und Todesstreifen braucht kein Mensch. Sie schaffen gerade keine Sicherheit, sie schränken die Freiheit und Gleichheit der Menschen ein, sie kreieren ein Weltbild, nachdem die Welt in bestimmte Bereiche geteilt ist, die nicht jedem Menschen zugänglich sind. Zudem sind Grenzen nie in alle Richtungen offen oder geschlossen. Afrikaner müssen ihr Leben riskieren, wenn sie eine Zukunft in Europa suchen. Will eine deutsche Familie nach Kanada oder Tansania oder sonst wo hin, dann schickt VOX noch ein Kamerateam mit und liefert 'nen Beitrag zu einem gemütlichen Abend auf der Couch. Insofern ist es gerade in Berlin angebracht, sich über den Fall der Mauer vor 30 Jahren zu freuen. Leider scheint die Menschheit nicht aus den Erfahrungen zu lernen. Heute sind die Grenzen nicht mehr direkt vor unseren Augen, doch dafür lebensgefährlicher denn je. Die tödlichste Grenze sieht man nicht einmal, da sie sich mitten auf dem Meer befindet.
Können wir Deutschen uns auf ein vereinigtes Deutschland freuen, oder müssen wir für alle Zeit mit einem schlechten Gewissen leben, uns für ein böses und gefährliches Volk halten und deshalb voller Mißtrauen allen Bemühungen um staatliche Einheit gegenüber stehen? […] Wo Gott nun einen offensichtlichen Schlußstrich unter unsere Vergangenheit zieht, sollten auch wir es tun.
Vielleicht würden nicht alle, die sich über die Wiedervereinigung freuten, diese Worte wählen. Dennoch zieht sich das Band der Schlußstrichforderer durch alle Teile der Gesellschaft von der damaligen Zeit bis zu den Höckeschen Verurteilungen der Gedenkkultur in unseren Tagen. In Goebbelsscher Rhetorik wetterte er 2017 in Dresden:
Die Vergangenheitsbewältigung als gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe, die lähmt ein Volk. […] Und diese dämliche Bewältigungspolitik, die lähmt uns heute noch viel mehr als zu Franz Josef Strauß’ Zeiten. Wir brauchen so dringend wie niemals zuvor diese erinnerungspolitische Wende um 180 Grad […].Wir brauchen keinen toten Riten mehr in diesem Land. Wir brauchen keine hohlen Phrasen mehr in diesem Land, wir brauchen eine lebendige Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und zuallererst mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt. […] Wir Deutschen […] sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat. - Björn Höcke
Die Beschäftigung mit diesem Faschisten zeigt: Gedenkarbeit ist kein allein rückwärtsgerichtetes Geschehen. Es ist auch und vor allem eine Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer und rassistischer Politik in der Gegenwart. Darum darf nicht in Vergessenheit geraten was am 9. November zu allererst im Blick bleiben sollte: Die Erinnerung an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938. Wir erinnern an die furchtbaren Ereignisse, in dem wir als HfA zum Gedenk-Stolperstein für Hermann Horwitz gehen.



Die Novemberpogrome 1938 waren der bisherige Höhepunkt der antisemitischen Ausgrenzungs- und Ausbeutungspolitik. Die entfesselte Gewalt des 9. und 10.11.1938 im gesamten deutschen Reich ist mit Worten kaum zu beschreiben. Selbst der oft zitierte „Rückfall in die Barbarei“ trifft es noch nicht ausreichend. Die „Rache für Paris“, das Attentat des Juden Herschel Grynszpan auf den Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath, wurde als Vorwand von der NSDAP-Führung benutzt für einen Ausbruch des „Volkszornes“. In Wahrheit machten in allen Gauen SA, SS und HJ den Anfang, unzählige „normale“ Bürgerinnen und Bürger schlossen sich an. Die Feuerwehren ließen ca. 1.400 Synagogen und Einrichtungen jüdischer Gemeinden abbrennen und schützten nur die angrenzenden Wohnhäuser in denen „arische Nachbarn“ wohnten. Die Polizei ließ den entfesselten Mob ca. 7.500 jüdische Geschäfte stürmen, Fensterscheiben zerschlagen, Waren plündern, etc. Ca. 30.000 jüdische Frauen und Männer wurden verhaftet, kamen ins Gefängnis oder in KZ’s zur sogenannten „Schutzhaft“. Unzählige Jüdinnen und Juden wurden geschlagen, misshandelt, gedemütigt, teilweise in Schlafanzügen wie Vieh durch die Straßen getrieben. Wie viele Menschen in dieser schwarzen Novembernacht ums Leben kamen, ist bis heute unklar.
Der 9. November war – und das ist der bitterste Punkt der Geschichte – nicht der Höhepunkt der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Den Ausgrenzungen und der „Arisierung“ (Verdrängen der Jüdinnen und Juden aus der deutschen Wirtschaft) folgten die Vertreibung und schließlich die Vernichtung nicht bloß der deutschen Jüdinnen und Juden, sondern fast des gesamten europäischen Judentums. Beziffert werden etwa 6 Millionen Opfer.
Wer sich dafür ausspricht an diese Kapitel der deutschen Geschichte nicht mehr zu erinnern, der lehnt nicht nur die Verantwortung für die Zukunft ab, er affirmiert auch das damals Geschehene. Solange das geschieht, lasst uns immer wieder aufstehen, ob beim Fußball oder sonst wo und uns dagegen stellen. Das was 1938 und danach geschah, darf niemals wieder geschehen, egal an welchem Ort. Die Gefahr ist groß, vielleicht größer als zuvor, wie die Morde gegenwärtiger Nazis zeigen.
Deshalb gilt für alle Zeit:
Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! - Bertolt Brecht
Hertha für Alle im November 2019